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MEINUNG1. April 2021

„Versicherer sterben aus, weil sie keine Fans haben“ – Interview mit Getsafe-CEO Christian Wiens

Getsafe

Christian Wiens gibt sich sehr selbstbewusst. Der CEO des Heidelberger InsurTechs Getsafe sagt den Versicherungen schwierige Zeiten voraus – und prophezeit den wendigen Herausforderern aus der InsurTech-Welt eine rosige Zukunft. Wo er die Argumente dafür herholt und welche Rolle aus seiner Sicht die großen Digitalkonzerne wie Google und Amazon spielen können, erfahren Sie im IT-Finanzmagazin-Interview.

Herr Wiens, zunächst einmal: Was ist technisch das Besondere an Ihrer Plattform fürs Versicherungswesen? 

Unsere technologische Versicherungsplattform ist in der Lage, die gesamte Wertschöpfungskette abzudecken, vom Underwriting über Zahlungen und Policenverwaltung bis hin zur Schadensbearbeitung. Das schafft Geschwindigkeit und Flexibilität in einem der langsamsten und unflexibelsten Geschäfte der Welt. Wir können in kürzester Zeit in neue Märkte expandieren, sehr viele Datenpunkte auswerten und verknüpfen und darauf basierend die Versicherungserfahrung verbessern und anpassen. Das ist am Ende vor allem für den Nutzer spürbar: Er kann Versicherungen täglich kündigen, Details in Echtzeit ändern oder Schäden per App melden. Und das ist erst der Anfang.

Welche Grundvoraussetzungen müssen denn geschaffen sein, um spontan abschließbare Versicherungen zu realisieren? Ein Stichwort ist ja die voll-digitalisierte Antragsstrecke. Wie unterscheidet sich das von der herkömmlichen Herangehensweise von Versicherungsunternehmen?

Getsafe

Christian Wiens: Die Grundvoraussetzung ist die Plattform. Sie ermöglicht es uns, differenzierte Produkte für unterschiedliche Lebensphasen und Märkte unter einer starken Marke und mit einer konsistenten Nutzererfahrung zu bündeln. Das ist ein großer Vorteil gegenüber traditionellen Versicherern mit veralteten und inkompatiblen IT-Systemen.

Traditionelle Versicherer versuchen zwar, ihre Prozesse zu digitalisieren und Technologien für sich zu nutzen. Allerdings kämpfen sie mit einem massiven Modernisierungsrückstau.“

Außerdem war Versicherung schon immer ein datenintensives Geschäftsmodell. Sie richtig auszuwerten, darin sind traditionelle Versicherer schwach. Ein Beispiel ist die Spartentrennung in Kranken-, Lebens- und Sachversicherungsgesellschaften. Etablierte Versicherer haben nicht die Infrastruktur, die es erlauben würde, Kundendaten über die gesamte Vertragslaufzeit und alle Schnittstellen zu bündeln. Und da kommen wir ins Spiel.

Klingt alles schön einfach, nicht so angestaubt wie bei der etablierten Versicherung… doch an bestimmten regulatorischen Themen in der Versicherungswirtschaft kommen Sie ja auch nicht vorbei. Über wen versichern Sie, bzw. weiß der Kunde jeweils, wer dahinter steht?

Christian Wiens: Aktuell agieren wir als Assekuradeur und nutzen dazu noch die Lizenzen großer Rückversicherer. In diesem Jahr wollen wir mit eigener BaFin-Lizenz am Start sein. Unsere Nutzer nehmen uns auch heute schon als Direktversicherer wahr – vom Kauf der Versicherung in der App bis hin zur Schadenmeldung kommt aus Nutzersicht alles von Getsafe. Der Rest passiert im Hintergrund. Den Umschwung auf unsere eigene Lizenz werden sie entweder nicht merken oder von den positiven Auswirkungen profitieren, etwa bei der schnelleren Schadensabwicklung.

Wer nutzt denn eine solche rein digitale Lösung? Ich habe gelesen: 75% Ihrer Kunden schließen zum ersten Mal eine Versicherung ab… ist Getsafe nur ein Phänomen für die jungen Zielgruppen oder sind Sie für ältere Verbraucher weniger attraktiv?

Christian Wiens: Unsere Zielgruppe sind digital-affine Menschen, das Alter spielt eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger ist das Nutzerverhalten dieser Zielgruppe, die zum Beispiel nicht mit einem Makler oder Vertreter interagieren, sondern lieber alles in einer App haben will. Auch im Schadensfall verhält sich diese Zielgruppe dann entsprechend anders, sucht digitale Wege. Für diese Generation an Kunden bauen wir das Ganze.

Und das Marktpotenzial ist riesig: In den nächsten zehn Jahren werden allein Menschen im Alter zwischen 20 und 35 Jahren 1 Milliarde Versicherungspolicen im Gesamtwert von über 300 Milliarden Euro erwerben.“

Im Interview: Christian Wiens, Getsafe
Getsafe

Christian Wiens ist von Hause aus Maschinenbauer und Co-Gründer / Geschäftsführer beim Heidelberger InsurTech Getsafe. Das 2015 gegründete Unternehmen will Versicherung neu denken und app-centric angehen.

Sie haben gesagt „das Tech Monopoly der Versicherung hat noch nicht stattgefunden“. Muss oder kann es angesichts der schwierigen internationalen Skalierbarkeit (Stichwort: unterschiedliche Regulatorik in jedem Land) überhaupt einen internationalen Big Player geben? Und Vertreter etablierter Versicherer bemängeln, viele InsurTech-Geschäftsmodelle passten nicht zur klassischen Versicherungswirtschaft, weil sie keinen Mehrwert generieren können. Was entgegnen Sie denen?

Christian Wiens: Was passt denn zur klassischen Versicherungswirtschaft? Traditionelle Versicherer sterben aus, weil sie es nicht schaffen, Kundenfeedback umzusetzen. Sie machen aus ihren Kunden keine Fans, wie ein einfacher Blick auf Kundenbewertungen zeigt. Fakt ist, Versicherung ist eine der größten Branchen der Welt. Und doch gibt es kein Amazon der Versicherer, kein Airbnb oder Uber der Versicherungen; es gibt kein Unternehmen, das zum globalen Marktführer im Versicherungssegment geworden ist. Selbst die drei größten Versicherer der Welt haben in ihren Kernmärkten keine dominierenden Marktanteile. Wir haben die Daten und die Technologie, um genau das aufzubauen. Wir wollen die Versicherungsbranche auf die gleiche Weise verändern, wie Amazon den Einzelhandel verändert hat. Ob das passt oder nicht, das bewerten die Kunden. Bislang sieht es sehr gut aus.

Sie sehen den Markt und den Boom bei FinTechs und InsurTechs, auch in Deutschland. Würden Sie sich einen Blick in die Zukunft zutrauen? Wo stehen wir versicherungstechnisch in zwei, drei oder gar fünf Jahren? Was sind die Trends?

Getsafe

Christian Wiens: Spannend ist sicher die Entwicklung rund um Konzerne wie Google, Amazon oder Facebook, deren Potenzial, die Versicherungsbranche aufzumischen, angesichts ihrer Marktpräsenz und ihres technologischen Know-Hows groß ist. Allerdings glaube ich auch, dass diese großen Marken ihre Identität und Kernleistungen behalten werden – keiner dieser Konzerne wird umschwenken und ein globaler Versicherer werden.

Wahrscheinlicher ist, dass diese Firmen moderne, große Versicherungen zukaufen werden, um auch diese Leistungen aus einer Hand anzubieten.“

Ich bin auch gespannt, was der Mittelstand macht – regionale Versicherer oder solche, die nur auf bestimmte Berufsgruppen zielen. In der Bankenbranche gab es eine Krise, die Etablierten mussten sich schnell überlegen, wie Dinge verändert werden können. Diese Krise gibt es in der Versicherung nicht. Der durchschnittliche Kunde ist 50 Jahre alt und wird seine Beiträge noch 30 oder 40 Jahre zahlen. Es gibt keinen dringenden Bedarf, sich zu verändern. Das ist die größte Gefahr für Großversicherer – und die größte Chance für InsurTechs.

Warum haben Sie gerade von Heidelberg aus gegründet? – Das ist ja nicht gerade die Versicherungs- oder Gründerhochburg.

Christian Wiens: Heidelberg ist für IT-Startups als Standort tatsächlich untypisch. Hier gibt es weniger Investoren und große Konkurrenten aus der Industrie. Heidelberg ein ungeschliffener Diamant. Für viele Gründer im Tech-Bereich wäre Heidelberg vermutlich nicht die erste Wahl. Aber es ist ein toller Standort. In den kapitalstarken USA und China ist Heidelberg bekannter als die meisten deutschen Großstädte. Hier ist einer der führenden Wissenschaftsstandorte Europas mit sehr vielen schlauen Köpfen und nicht zuletzt der Standort von Europas größtem IT-Konzern SAP. Die gesamte Region zwischen Frankfurt, Stuttgart und Mannheim beherbergt viel Industrie sowie Deutschlands beste Universitäten für Ingenieure, Naturwissenschaftler und Betriebswirte.

Herr Wiens, wir danken für dieses Gespräch. tw

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