STRATEGIE3. Dezember 2025

Perspektiven für die europäische Bankenaufsicht – von Bundesbanker Prof. Dr. Joachim Nagel

Gaby Gerster / Bundesbank

Auf dem Bayerischen Bankentag am 28.11.2025 unter dem Motto „Wirtschaftliche Stabilität als gemeinsame Verantwortung“ sprach Bundesbankpräsident Prof. Dr. Joachim Nagel über die Perspektiven der europäischen Bankenaufsicht. Ziele sollten sein, die Komplexität zu reduzieren und dabei die Stabilität zu wahren. In seiner Rede betonte er das Ziel der Vereinfachung gegenüber einer Deregulierung. Nach einer umfangreichen Bestandsaufnahme der Bankenaufsicht sprach er sich speziell für eine Bündelung von Kapitalpuffern und die Einführung eines Kleinbankenregimes aus. Eine Zusammenfassung seiner Rede, die Sie hier vollständig nachlesen können.

Das sogenannte Pareto-Prinzip besagt, dass sich 80 Prozent der Ergebnisse mit 20 Prozent des Gesamtaufwandes erreichen lassen. Die Pareto-Analyse wird verwendet, um Aufgaben zu priorisieren. Rückblickend hat die Finanzaufsicht in Europa ihr Ziel klar erfüllt und die Finanzstabilität gewährleistet. Allerdings sind die Aufsichtsregeln über die Jahre immer komplexer geworden. Das ist ein Faktor, der die Produktivität der europäischen Banken beeinträchtigt. Daher sollten die aufsichtlichen Regeln vereinfacht werden – das Stichwort lautet Simplification.

Reformbedarf in der Bankenaufsicht: Vereinfachung, nicht Deregulierung

Berichte von Enrico Letta und Mario Draghi fordern eine Vereinfachung der Regulierung in der Europäischen Union, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu erhöhen. Die Europäische Kommission hat bereits eine Initiative zur Vereinfachung der Regulierung und Verminderung der bürokratischen Lasten gestartet. Im Einklang damit hat der EZB-Rat eine High-Level Taskforce ins Leben gerufen, um die Vereinfachung des bankenaufsichtlichen Rahmenwerks voranzutreiben.

Dabei sollten wir uns darüber im Klaren sein, was Vereinfachung bedeutet und was nicht. Mit Simplification bezeichnen wir den Abbau unnötiger Komplexität in der Bankenregulierung. Was wir damit jedoch nicht bezwecken wollen, ist eine Deregulierung, die mit höheren Finanzstabilitätsrisiken einhergehen würde.”

Allerdings bergen die geoökonomische Fragmentierung und die tendenzielle Abkehr vom Multilateralismus gerade dieses Risiko. Es sei entscheidend, dass wir ein globales Wettrennen nach unten in der Finanzregulierung nicht zulassen. Denn das würde die Stabilität des Finanzsystems rund um den Globus unterminieren, wovon im Endeffekt kein Wirtschaftsraum profitieren würde.

Europäische Bankenaufsicht: eine Bestandsaufnahme

Am Beispiel der Eigenmittelregulierung können wir das Ausmaß der Komplexität sehr gut erkennen. Grundsätzlich dienen Eigenmittelanforderungen dazu, die Stabilität von einzelnen Banken sowie des Finanzsystems insgesamt zu gewährleisten. Dabei lassen sich die Eigenmittelanforderungen in zwei Hauptkategorien aufteilen: den Kapital- und den Abwicklungsrahmen.

Der Kapitalrahmen greift im Going-Concern-Fall, also wenn wir von der Fortführung der Banktätigkeit ausgehen. Hier gibt es vier Eigenkapitalanforderungen, drei davon sind risikogewichtet. Hier werden die einzelnen Bilanzpositionen bei der Berechnung der Anforderungen ihrem Risikoprofil entsprechend behandelt. Beispielsweise muss eine Bank Kredite an zuverlässige Schuldner mit weniger Eigenkapital unterlegen als Kredite an riskante Schuldner. Ähnlich verhält es bei den Sicherheiten: Unbesicherte Kredite erfordern mehr Eigenkapitalunterlegung als besicherte.

Zu den risikogewichteten Eigenkapitalanforderungen im Kapitalrahmen zählen Anforderungen an hartes Kernkapital, zusätzliches Kernkapital sowie die gesamten Eigenmittel. Das harte Kernkapital steht besonders im Fokus der Bankenaufsicht, denn dieses Eigenkapitel fängt Verluste am besten und unmittelbar ab. Zum harten Kernkapital gehören beispielsweise ausgegebene Aktien oder einbehaltene Gewinne.

Instrumente des zusätzlichen Kernkapitals sind nachrangig. Hier muss jedoch die Möglichkeit bestehen, sie in hartes Kernkapital umzuwandeln. Ein Beispiel dafür sind bedingte Pflichtwandelanleihen, auch Coco-Anleihen genannt, die beim Eintreten bestimmter Kriterien automatisch von Fremd- in Eigenkapital gewandelt werden.

Ferner müssen die Banken eine Verschuldungsquote einhalten. Sie wird auch Leverage Ratio genannt. Dabei handelt es sich um ein Verhältnis des Kernkapitals zur gesamten Bilanzsumme. Die einzelnen Positionen bei der Leverage Ratio werden nicht mit individuellen Risikogewichten versehen. Damit sichert sie eine Mindestausstattung an Eigenkapital. Die risikobasierten Eigenkapitalanforderungen wirken tendenziell prozyklisch, da sie in einer konjunkturell schwierigen Zeit die Kreditvergabe tendenziell beschränken. Unter anderem soll die Leverage Ratio als eine nicht risikobasierte Kennziffer diesem Effekt entgegenwirken.

Der Abwicklungsrahmen enthält weitere Kapitalanforderungen. Diese sollen sicherstellen, dass eine Bank im Falle einer Insolvenz geordnet abgewickelt werden kann. Für die in der EU ansässigen Banken gilt die Mindestanforderung an Eigenmittel und berücksichtigungsfähige Verbindlichkeiten – abgekürzt als MREL. MREL soll sicherstellen, dass bei Banken ausreichend bail-in-fähiges Kapital für den Abwicklungsfall vorhanden ist, also zur Verlustbeteiligung zur Verfügung steht. Hier besteht ebenfalls eine Unterscheidung nach risikogewichteten und nicht-risikogewichteten Kapitalanforderungen. Zudem können Banken bestimmte Instrumente des Fremdkapitals nutzen, um die Anforderungen des Abwicklungsrahmens zu erfüllen.

Für global systemrelevante Banken gilt ferner der internationale Standard TLAC – das Akronym für Total Loss Absorbing Capacity. Im Gegensatz zu MREL sind die Anforderungen von TLAC nur für die wenigsten Großbanken in Europa relevant.

Insgesamt müssen Banken in der EU bis zu neun verschiedene Eigenmittelanforderungen erfüllen. Damit ist die Darstellung der Regulierungskomplexität aber noch unvollständig. Denn der Abwicklungsrahmen besteht aus mehreren Schichten. Und auch einige Eigenmittelanforderungen bestehen ihrerseits aus mehreren Schichten.

Hinzu kommen sogenannte Kapitalpuffer. Kapitalpuffer sind größtenteils makroprudenzielle Instrumente. Sie dienen dazu, das Finanzsystem insgesamt widerstandsfähiger zu machen. Dazu gehören der Kapitalerhaltungspuffer, der antizyklische Kapitalpuffer, der Kapitalpuffer für global systemrelevante Institute, der Kapitalpuffer für anderweitig systemrelevante Institute and der Systemrisikopuffer. Diese Puffer sind Aufschläge auf das harte Kernkapital über die Mindestkapitalquoten. Die Kapitalpuffer sind teilweise gleich für alle Banken, teilweise aber bank- oder länderspezifisch. Sie können im Zeitablauf variieren.

Es gibt auch eine dritte Schicht beim Kernkapital: die sogenannten Säule-2-Empfehlungen. Hier handelt es sich um bankspezifische Empfehlungen. Sie geben an, wie viel Kapital Banken nach Ansicht der Aufsichtsbehörden zusätzlich zu den verbindlichen Kapitalanforderungen halten sollten. Ausgangspunkt für solche Empfehlungen sind die Ergebnisse der bankspezifischen Stresstests. Sie sind aber nicht rechtsverbindlich.

Die große Anzahl von aufsichtlichen Regeln führt dazu, dass Banken, Aufseher und andere Marktteilnehmer oft nur schwer erkennen können, welche Anforderung gerade bindet. Bei der großen Anzahl von Kapitalanforderungen kommt es unweigerlich zu Neben- und Wechselwirkungen. Solche Effekte können den eigentlichen Zweck der aufsichtlichen Maßnahmen untergraben. Mehrere Fälle von Doppelanrechnungen bei Kapitalanforderungen sind dokumentiert.

Zielkonflikte sind auch bei unterschiedlichen Auslösezeitpunkten für Krisenmaßnahmen möglich. Aus Sicht des Kapitalrahmens sollten Krisenmaßnahmen möglichst spät ausgelöst werden. Denn so können Banken ihre Puffer nutzen und die Kreditversorgung der Wirtschaft aufrechterhalten. Allerdings kann dieses Vorgehen zu wenig Kapital für eine geordnete Abwicklung lassen, insbesondere wenn Eigenmittel im Kapital- und Abwicklungsrahmen doppelt angerechnet werden.

Vereinfachung 1: Kapitalpuffer bündeln

Wir könnten mehrere Kapitalpuffer bündeln. Hierbei sollten wir den Anwendungsbereich sowie die Zuständigkeiten der jeweiligen Puffer beachten. Zum Beispiel wird die Höhe des antizyklischen Kapitalpuffers und des Systemrisikopuffers von der BaFin festgelegt. Klar ist, dass es nur sinnvoll ist, die Puffer innerhalb der bestehenden Zuständigkeiten zu bündeln.

Zudem bietet es sich an, den antizyklischen Kapitalpuffer und den Systemrisikopuffer zu einem einzigen freigebbaren Puffer zusammenzufassen. Die beiden Puffer liegen in der Zuständigkeit der nationalen Aufsicht und gelten für große Gruppen von Finanzinstituten. In Stressphasen könnten die nationalen Aufsichtsbehörden den gebündelten Puffer flexibel freigeben. Wenn die Aufsicht einen Puffer freigibt, sinken die Eigenmittelanforderungen der betroffenen Banken. Damit vergrößern sich auch die Spielräume der Banken, Kredite an Unternehmen und Haushalte zu vergeben.

Vereinfachung 2: Kleinbankenregime einführen

Die Eigenmittelanforderungen für Kleinbanken könnten vereinfacht werden. Die Regulierung kleiner Banken in der EU unterliegt bereits jetzt dem Grundsatz der Proportionalität. Diese Flexibilität soll gewährleisten, dass kleinere und weniger komplexe Institute nicht mit denselben umfangreichen Vorschriften belastet werden wie große, international tätige Banken.

Allerdings greift der Grundsatz der Proportionalität noch nicht in allen Regulierungsbereichen der Bankenaufsicht. So müssen kleine Banken in Europa ähnlich komplexe Eigenmittelanforderungen erfüllen wie die großen Institute. Vor allem im Kapitalrahmen gibt es die Möglichkeit, die Anforderungen für kleine Banken zu vereinfachen und zugleich zu stärken. Denn die risikobasierten Bestandteile des Rahmenwerks stellen kleine Institute vor administrative Herausforderungen. Zudem enthält der risikobasierte Teil im Rahmenwerk eine Reihe von Ausnahmen und Sonderregelungen.

Eine gute Blaupause für den aufsichtlichen Umgang mit kleinen Banken liefert die Schweiz. In der Schweiz können kleine, besonders liquide und gut kapitalisierte Banken eine Zulassung zu einem Kleinbankenregime beantragen, bei dem risikogewichtete Anforderungen komplett entfallen. Aus meiner Sicht kommt eine solche Regelung auch für kleine, wenig komplexe und risikoarme Banken in der EU in Frage. Die aufwändige Berechnung und Dokumentation risikogewichteter Aktiva samt entsprechender Melde- und Offenlegungspflichten würden damit entfallen. Im Gegenzug müssten kleine Banken eine deutlich höhere Leverage Ratio erfüllen, also mehr Kernkapital im Verhältnis zu den ungewichteten Aktiva aufweisen. Eine solche Regelung würde die Eigenmittelanforderungen für kleine Banken in Europa bedeutend vereinfachen und zugleich ihre Widerstandsfähigkeit nicht vermindern.

Fazit zur Bankenaufsicht

Erstens könnten wir zwei makroprudenzielle Kapitalpuffer – den antizyklischen Kapitalpuffer und den Systemrisikopuffer – zu einem einzigen Puffer bündeln. Zweitens würde ein Kleinbankenregime ohne risikogewichtete Vorgaben, aber dafür mit höherer Verschuldungsquote viel zur Vereinfachung der Bankenaufsicht in der EU beitragen.”

Dabei diskutieren wir in der High-Level Taskforce auch andere Möglichkeiten, die Bankenregulierung in Europa zu vereinfachen.

Stehen die Maßnahmen zur Vereinfachung des Regulierungsrahmens im Einklang mit der Pareto-Regel? Ja und nein. Ja, weil anzunehmen ist, dass einzelne Anforderungen oft ungleich viel zur Finanzstabilität beitragen. Daher sollten wir nur die effektiven Regelungen beibehalten, um den Regulierungsrahmen zu vereinfachen. Nein, weil mir eine Reduktion bis auf 20 Prozent des Gesamtaufwandes zu weit erscheint. Denn es geht um eine Vereinfachung, nicht um Deregulierung. Vor diesem Hintergrund wäre ich nur mit 80 Prozent der Ergebnisse nicht zufrieden.

Wenn wir mit weniger Regeln die gleiche Stabilität erreichen können, wäre doch viel gewonnen. Wir stehen hier erst am Anfang eines langen Weges. Im nächsten Schritt wird es darum gehen, die vorgeschlagenen Maßnahmen zu konkretisieren und detailliert auszuarbeiten. Die Simplification sollte gut durchdacht und ausgearbeitet sein, damit die Implementierung einwandfrei klappt. Dies würde die europäischen Banken leistungsfähiger machen und zu einem dynamischeren Wachstum in Europa beitragen.pp

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