Deutschlands Vermögensbranche kämpft mit den Hindernissen der Digitalisierung

Reeve AI
Mit mehr als 4,1 Billionen Euro an verwaltetem Vermögen verfügt Deutschland über einen der bedeutendsten Märkte Europas. Doch die Herausforderung liegt weniger in der Marktgröße als in der Fähigkeit, diesen Markt nachhaltig zu modernisieren. Die Studie macht deutlich, dass die digitale Transformation vieler Häuser nicht in dem Tempo vorankommt, das im internationalen Wettbewerb notwendig wäre. Dies fällt besonders ins Gewicht, da das private Haushaltsvermögen seit 2021 um 15 Prozent gesunken ist – ein Indikator für wachsende Unsicherheiten und schwindendes Vertrauen innerhalb der Bevölkerung.
Die Datengrundlage des Reports basiert auf 200 Interviews mit Führungskräften und Entscheidern aus der DACH-Region, Frankreich, dem Vereinigten Königreich, den Benelux-Staaten und Skandinavien. Ziel war es, die strukturellen und technologischen Hindernisse zu identifizieren, die einer effektiven Digitalisierung entgegenstehen – sowie Potenziale, die branchenweit noch nicht ausgeschöpft werden.
Strukturelle Trägheit als größtes Hemmnis

Seismic
Die Untersuchung zeigt, dass insbesondere in Deutschland veraltete IT-Systeme und Integrationsprobleme ein gravierendes Hindernis darstellen. 53 Prozent der befragten Vermögensverwalter nennen sie als bedeutendste interne Barriere – der höchste Wert im gesamten EMEA-Vergleich. Weitere 38 Prozent berichten von deutlichem Widerstand innerhalb der Beratungsteams, wenn neue technologische Lösungen eingeführt werden sollen. Dieser innere Widerstand trifft auf eine Kundschaft, die zunehmend digitale, personalisierte Angebote erwartet. Gerade jüngere Anlegerinnen und Anleger setzen auf Self-Service-Portale, digitale Onboarding-Prozesse und nahtlose Interaktionen über verschiedene Kanäle hinweg. 68 Prozent der deutschen Befragten sehen genau in diesen Bereichen die größten Chancen für Wachstum und Kundenbindung.
Trotz aller strukturellen Hemmnisse zeigt der Report auch ein differenziertes Bild: 55 Prozent der deutschen Vermögensverwalter bewerten ihre laufenden KI-Projekte als „sehr effektiv“. Dies deutet darauf hin, dass punktuelle Fortschritte durchaus erzielt werden – nur fehlt es bislang an einer ganzheitlichen Modernisierung über gesamte Prozesse und Systeme hinweg.
Ein wachsender Abstand zwischen Anspruch und Umsetzung
Die Studienergebnisse verdeutlichen, dass Deutschland in einer paradoxen Situation steckt. Einerseits verfügt der Finanzsektor im internationalen Vergleich über hohe fachliche Expertise, stark regulierte Prozesse und eine traditionell hohe Präzision in der Kundenbetreuung. Andererseits verhindern historisch gewachsene Strukturen, komplexe IT-Landschaften und eine eher konservative Unternehmenskultur vielfach den notwendigen Wandel.
Der resultierende Modernisierungsstau führt zu einer wachsenden Lücke zwischen technologischem Anspruch und operativer Realität. In einem Umfeld, in dem Vertrauen das zentrale Asset der Vermögensbranche ist, können Verzögerungen in der Digitalisierung langfristig zu Wettbewerbsnachteilen führen – sowohl im Inland als auch gegenüber internationalen Anbietern, die neue digitale Standards setzen.
Die deutsche Finanzbranche steht vor derselben Herausforderung, die die Industrie einst meisterte: Sie muss Exzellenz in Präzision und Qualität erreichen, nur eben digital. Andernfalls riskieren sie nicht nur, Kapital zu verlieren, sondern auch ihre Führungsrolle in Europa.“
Gemma Livermore, FS Marketing Director bei Seismic
Digitale Leistungsfähigkeit wird zur Standortfrage
Der Report macht deutlich, dass sich die digitale Modernisierung nicht nur auf Effizienz oder Kundenservice beschränkt. Sie entwickelt sich zunehmend zu einer strategischen Standortfrage. Kapital ist global mobil wie nie zuvor – und entscheidet sich dort niederzulassen, wo Infrastruktur, Sicherheit und digitale Leistungsfähigkeit zusammenkommen. Für Deutschland bedeutet das: Wenn Vermögensverwalter ihre starke Marktposition im europäischen Wettbewerb langfristig behaupten wollen, müssen sie sich nicht nur technologisch, sondern auch kulturell neu ausrichten. Dazu gehört insbesondere der Abbau von Integrationshürden, die Modernisierung von Systemlandschaften sowie eine Veränderung der internen Haltung gegenüber digitalen Prozessen und KI-gestützten Lösungen.
Die Studie zeigt zugleich, dass die Voraussetzungen grundsätzlich gegeben sind. Wo KI-Projekte bereits umgesetzt wurden, erzielen sie nach Angaben der Befragten eine hohe Wirksamkeit. Auch die Erwartungen an digitale Angebote wie automatisierte Beratungselemente oder kundenzentrierte Plattformen sind klar definiert. Doch erst wenn diese Einzelinitiativen zu einer kohärenten digitalen Strategie zusammengeführt werden, kann daraus ein nachhaltiger Wettbewerbsvorteil entstehen.
Die deutsche Vermögensbranche verfügt also unterm Strich über starke Grundlagen, steht jedoch vor einem tiefgreifenden Modernisierungsprozess. Die digitale Transformation entwickelt sich zunehmend zu einem entscheidenden Faktor für Vertrauen, Kundenzufriedenheit und Wettbewerbsfähigkeit. Ob die Branche diese Herausforderung meistert, hängt maßgeblich davon ab, wie entschlossen sie ihre strukturellen und kulturellen Bremsklötze adressiert und wie konsequent digitale Lösungen als integraler Bestandteil ihres Leistungsversprechens verankert werden.tw
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