ARCHIV8. Januar 2018

Mit Big Data hakelige Prozesse verbessern: Process Mining bei PostFinance und VTB

Bastian Nominacher, Co-CEO CelonisCelonis

Banken und Versicherungen wissen oder ahnen: Nicht alle Prozesse in ihrem Unternehmen laufen glatt. Klassische Analysemethoden sehen Verzögerungen in einem Prozess, nicht aber die Ursachen dafür. Mit “Big-Data-Technologie Process Mining” soll sich das Problem lösen lassen, denn es macht sich die Daten zunutze, die im Unternehmen entstehen. Bastian Nominacher, Co-CEO Celonis stellt vor, wie das bei der Schweizerischen PostFinance (Onboarding/Kontoeröffnung) und der VTB Bank umgesetzt wurde.

von Bastian Nominacher, Co-CEO Celonis

Data Mining und Process Mining verfolgen einen sehr ähnlichen Ansatz: Das Prinzip beider Technologien ist es, statistische Methoden systematisch auf große Datenmengen anzuwenden und dadurch das in den Daten verborgene Wissen offenzulegen. Worin sich Process Mining aber grundlegend vom klassischen Data Mining unterscheidet, sind Datengrundlage, Ziel der Analyse und die Visualisierung der Ergebnisse. Geht es Anwendern von Data Mining darum, Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten in den Daten zu erkennen, kann mit Process Mining das bereits in den Daten enthaltene, implizite Prozesswissen gehoben und visualisiert werden. Im Vergleich zur klassischen Data-Mining-Methode setzt Process Mining also nicht auf der Daten- sondern auf der Prozessebene an. Aus technischer Sicht bedeutet das: Die Software analysiert sogenannte „Logs“, die als Events, sprich Aktivitäten, im Prozess gekennzeichnet werden. Um diese „Eventlogs“ zu definieren und in die Analyse zu integrieren, genügen drei Komponenten: Ein Zeitstempel, ein Eventbezeichner (beispielsweise „Bezahle Rechnung“) und ein Fallschlüssel wie die Rechnungsnummer. Der Ablauf eines Prozesses wird in der Software dann als Fluss chronologisch ablaufender Ereignisse abgebildet.

Celonis
process mining tool
Celonis ist 2011 aus einer universitären Technologieforschung an der Technischen Universität München (TUM) entstanden und ein Process-Mining-Tool. Im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit analysierten Alexander Rinke (Mathematiker), Bastian Nominacher (Wirtschaftsinformatiker) und Martin Klenk (Informatiker) einen Satz Prozessdaten und mussten feststellen, dass die verfügbaren Analysemethoden wie Data Mining oder Business Intelligence nicht die benötigten Erkenntnisse liefern konnten. Mehr versprach der an der TU Eindhoven erforschte Ansatz des Process Mining, der die drei auf die Idee brachte, eine eigene Software zu schreiben. Das Tool wird u.a. bei Schukat, Bayer, Siemens und Vodafone eingesetzt.

Implementierung und Arbeitsweise von Process Mining

Je mehr Anwender, Vorgänge und Daten in einem Unternehmen zusammenlaufen, desto komplexer, aber auch notwendiger wird es, die wirklichen Prozesse zu sehen. Grundsätzlich ist Process Mining unabhängig vom Prozess und kann dort eingesetzt werden, wo Abläufe digital ablaufen und große Mengen an Daten entstehen. Die Technologie kann auf Daten aus verschiedensten Quellsystemen zugreifen, ganz egal, welche Plattform und welches Datenformat Unternehmen nutzen. Möglich macht das eine Vielzahl von Standard-Konnektoren zu den meist verbreiteten IT-Anwendungen wie beispielsweise CRM- oder ERP-Systemen, die damit die Kernprozesse eines Unternehmens anbinden. Es besteht auch die Möglichkeit, eigens entwickelte Systeme anzubinden. Voraussetzung dafür ist, dass diese Systeme Event Logs erzeugen. Vordefinierte Datenmodelle unterstützen eine schnellere Implementierung. Im zweiten Schritt erfolgt die Anbindung von Drittsystemen und individuellen Tabellen. Dabei müssen Tabellen mit Rohdaten nicht verändert, sondern können stattdessen direkt miteinander und der Aktivitätstabelle verbunden werden. Bei kundenspezifischen Systemen werden Schnittstellen für die individuellen Anforderungen des jeweiligen Systems bereitgestellt, selbst für Legacy-Systeme. So haben Anwender bei Siemens mehr als hundert verschiedene Systeme angebunden, können einen Prozessverlauf über die vielen Systeme hinweg verfolgen und selbst Terabytes an Daten analysieren. Dabei ist es möglich, Process Mining entweder in der Infrastruktur des Unternehmens oder in der Cloud zu betreiben.

Vordefinierte Analysen ganz unterschiedlicher Use Cases in Unternehmen erleichtern Einsatz und Nutzung von Process Mining. Die Datentransformation muss nur einmal für jeden Prozess und jedes IT-System durchgeführt werden. Nach der Initialisierung der Transformation läuft diese automatisch im Hintergrund ab. Alle personenbezogenen Informationen können pseudonymisiert werden, sobald die Daten aus den IT-Systemen extrahiert werden. Berechtigungssysteme und eine Verwaltung und Autorisierung bestimmter Nutzergruppen steuern den Datenzugriff zudem.

Machine Learning

Mit der Einbindung von Machine-Learning-Funktionen werden noch umfassendere Informationen auf Basis von Millionen von Prozessdatensätzen generiert. Das System lernt aus den Prozessabläufen, erkennt Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung und kann Abweichungen frühzeitig erkennen und erklären. Machine Learning macht so Predictive Analytics möglich. Welche Maßnahmen im konkreten Fall ergriffen werden, bleibt nicht der Einschätzung des Anwenders überlassen. Vielmehr macht die Software neben Vorhersagen auch konkrete Handlungsempfehlungen. Dies bedeutet eine neue Verbindung von Mensch und Maschine: Die Software mit ihren intelligenten Algorithmen erkennt Muster in riesigen Datensätzen, die Bewertung und Umsetzung von Maßnahmen in der jeweiligen Organisation erfolgt durch den Menschen. Damit lassen sich beispielsweise Prozesse automatisieren, Rechnungsduplikate erkennen oder Compliance-Vorfälle vorhersagen. Einblick in die tatsächliche Arbeit mit Process Mining geben die Anwendungsbeispiele zum Einsatz der Technologie bei der VTB Bank und PostFinance.

Process Mining bei der Schweizerischen PostFinance: Onboarding

Auch bei PostFinance geht es um den Erfolg von Prozessen. Die Tochtergesellschaft der Schweizerischen Post ist mit 2,7 Millionen Privat- und 300.000 Geschäftskunden eines der fünf größten Finanzinstitute der Schweiz. Bisher hatte die PostFinance zwar eine klare Vorstellung davon, wie die eigenen Abläufe im Idealfall aussehen sollten, allerdings gab es wenig Aufschluss darüber, wie die Prozesse tatsächlich im Unternehmen ablaufen. Besonders im Fokus stand dabei die Kontoeröffnung: Bis zu 150.000 Konten werden bei der PostFinance im Jahr eröffnet – eine komplexe Prozesslandschaft, die es zu analysieren und zu vereinfachen galt.

Die anfängliche Skepsis von PostFinance, Process Mining könne die breite Systemlandschaft nicht ganzheitlich abdecken, wurde in der Implementierungs- und Proof-of-Concept-Phase aus dem Weg geräumt. Bei Testläufen von Process Mining zeigte sich, dass sich Systeme und Daten mithilfe von Standard-Konnektoren anbinden ließen und PostFinance die gewünschten Prozesse modellieren und analysieren konnte.

Peter Lacher, PostFinance
PostFinance

Während des Proof of Concept konnten wir in kürzester Zeit erste wichtige Erkenntnisse gewinnen und in konkrete Maßnahmen umsetzen.“

Peter Lacher, Leiter Operations Services

Um Schwachstellen zu beseitigen und unternehmensweit einheitliche, effiziente Prozesse zu schaffen, setzt PostFinance Process Mining bei Kontoeröffnungen in unterschiedlichen Regionen und Standorten ein. Durch Performance-Vergleiche konnten Best Practices identifiziert und ein interner Benchmark gesetzt werden. Seit­dem ge­lingt es Post­Fi­nan­ce, re­gi­ons­über­grei­fend Res­sour­cen ein­zu­spa­ren und Pro­zes­se zu be­schleu­ni­gen.

Wir haben gesehen, dass wir unterschiedliche Konstellationen haben, wie ein Prozess ablaufen kann.“

Michel Ellenberger, Leiter Prozessmanagement Konten bei PostFinance

Ziel bei PostFinance ist es daher, weitere ressourcenintensive Prozesse zu identifizieren, die großes Einsparpotenzial versprechen. Immer mehr Mitarbeitern wird dabei im Sinne einer Hands-On-Mentalität der Zugang zu Process Mining eröffnet.

Process Mining bei der VTB Bank

VTB ist mit über 104.000 Mitarbeitern und mehr als 1.400 Filialen in der Russischen Föderation und Westeuropa die zweitgrößte russische Bankengruppe. Das Kreditinstitut operiert von Moskau aus, hat aber wichtige Repräsentanzen in Paris, Frankfurt am Main und Wien. Mit seinen Wurzeln in der Sowjetzeit sieht sich VTB heute nicht nur mit neuen Marktgegebenheiten und wachsenden Kundenanforderungen konfrontiert, sondern hat auch mit historischen Hinterlassenschaften wie ineffizienten Prozessen zu kämpfen.

Der erste Schritt hin zu einer prozessnahen Organisation und einer stärkeren Kundenorientierung war die Gründung unseres Kompetenzzentrums im Jahr 2014. Diese Abteilung ist innerhalb der Bank gut sichtbar und berichtet direkt an den Vorstand.”

Tatiana Svidunovich, Leiterin des VTB Center of Competence

Während das Ziel Prozesstransparenz und -effizienz lange klar war und vom Management unterstützt wurde, war es der Weg dorthin nicht. 2015 führte das IT-Beratungsunternehmen Ramax die Big-Data-Analytics-Technologie Process Mining bei VTB ein. Ramax extrahierte alle relevanten Daten, die hauptsächlich aus Siebel CRM stammten, erstellte ein Eventlog, richtete das Datenmodell ein, arbeitete an den Dashboards mit den Prozessabläufen und KPIs und schulte die Mitarbeiter in der Nutzung von Process Mining.

Nikolai Sitnikov Ramax
LinkedIn

Vor Process Mining brauchten wir ein formales Prozessmodell, das der Realität entsprechen musste. Dies war in Russland besonders problematisch, da die großen Unternehmen in der Regel keine standardisierten Prozessmodelle haben. Mit Process Mining wird die Software direkt mit dem Quellsystem verbunden, die digitalen Spuren werden sofort visualisiert.”

Nikolai Sitnikov, Director Product Management Ramax

In einem ersten Schritt wurden die Prozesse rund um die Retail-Produkte von VTB wie Bankkonten, Kreditkarten, Einlagen, Kredite und Versicherungen analysiert. Innerhalb von nur drei Monaten konnte das gesamte Projekt – vom Scoping über die Schulung bis hin zur offiziellen Übergabe – abgewickelt werden.

Die VTB ist heute in der Lage, alle Aktivitäten eines Kunden, die mit seiner Application-ID im Quellsystem verknüpft sind, zu verfolgen – beispielsweise wie viele und welche Fehler sich negativ auf die Leistungserbringung ausgewirkt haben. Innerhalb von sechs Monaten konnte VTB die Durchlaufzeiten im Retail-Prozess um 30 Prozent verbessern. Der Return on Investment für die Software wurde bereits im ersten Jahr erreicht.

Weitere Anwendungsfelder bei VTB

Im ersten Halbjahr 2017 analysierten Ramax und VTB auch die Erbringung von Dienstleistungen für kleine und mittlere Unternehmen. Dabei ist beispielsweise die Dauer der Eröffnung eines Abrechnungskontos entscheidend. VTB verspricht Konten für Zahlungen, Überweisungen und Transaktionen innerhalb von drei Stunden einzurichten.

Vor der Analyse des Prozesses waren wir uns sicher, dass wir dieses SLA einhalten. Process Mining zeigte uns jedoch, dass nur dreizehn Prozent der Konten tatsächlich in drei Stunden eröffnet werden. Als wir den Stakeholdern gezeigt haben, dass die Hauptprobleme in den Backoffice-Prozessen liegen, haben sie es nicht geglaubt.”

 Tatiana Svidunovich, Leiterin des VTB Center of Competence

Autor Bastian Nominacher
Bastian Nominacher ist Co-CEO und Mitgründer des Technologie-Startups Celonis. Er sieht Process Mining als neue Disziplin und entwickelt sie maßgeblich weiter. Dabei hilft ihm die Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen wie der TU München oder der TU Eindhoven. Celonis hat neben dem Hauptsitz in München auch Niederlassungen in den Niederlanden und USA, beschäftigt über 250 Mitarbeiter bei rund 20 Mio. Euro Umsatz.

Weitere Prozesse auf der Roadmap von VTB sind Purchase-to-Pay, Order-to-Cash und Incident Management. Der Fokus liegt dabei auf einer möglichst weitgehenden Automatisierung. “Wir haben mehr als zehn Millionen aktive Kunden. Wir benötigen automatisierte Werkzeuge zur Analyse von Geschäftsprozessen”, erklärt Alexey Golubintsev, Projektmanager und Datenwissenschaftler im Center of Competence.

Das Potenzial der eigenen Daten heben

Die meisten Unternehmen sind sich bewusst, welche Chancen und Potenziale mit der Optimierung von Prozessen verbunden sind. Oft ist allerdings unklar, an welchen Stellschrauben gedreht werden muss, um Kosten zu reduzieren und Durchlaufzeiten zu beschleunigen. Process Mining skaliert für jede Unternehmensgröße, Branche, IT-Landschaft und alle erdenklichen IT-gestützten Prozesse. Durch das „Mining“ nach den digitalen Prozessspuren in den Systemen können Banken und Versicherungen alle Varianten im Prozess sehen, an welchen Stellen im Prozess es zu Extraschleifen und Verzögerungen kommt, welcher zeitliche Mehraufwand dadurch entsteht, was die Ursachen sind und welche Maßnahmen für die Lösung des Problems entscheidend sind. Damit wird es möglich, das Potenzial der eigenen Prozessdaten zu heben.aj

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert