INTERVIEW MIT CTO TAHEDL22. Mai 2020

“Hausbanken und Förderbanken sind gefordert, eine nationale Liquiditätskrise zu verhindern”

"Hausbanken und Förderbanken sind gefordert, eine nationale liquiditäts-Krise zu verhindern"
Christoph Tahedl, CTO CollendaCollenda

Deutschlands Banken agieren derzeit im Bereich der Kreditvergabe im Ausnahmezustand. Einzelne Institute sollen in der Krise bis zu 40 Tage für eine Kreditentscheidung benötigt haben. Offensichtlich hakt es an der Bearbeitungskapazität. Wir haben bei Christoph Tahedl (CTO Technologie/ Produktentwicklung) bei Collenda nachgefragt.

Herr Tahedl, welche Prozesse könnte man beschleunigen?

Die Coronakrise ist für viele Unternehmen ein Kampf gegen die Zeit. Schnelles Handeln der Institute ist aktuell überlebenswichtig:

Hausbanken und Förderbanken sind gefordert, eine nationale Liquiditätskrise zu verhindern.”

Dabei agieren Banken jedoch selber im Ausnahmezustand und müssen Maßnahmen wie Homeoffice umsetzen und gleichzeitig das operative Geschäft aufrechterhalten. Auch in der aktuellen Situation müssen Banken etwa eine Bonitäts- und Risikoprüfung von zu vergebenden Krediten vornehmen. Mit manuellen Prozessen ist dies vor allem aktuell nicht zeitnah darstellbar.

Vielmehr zeigt sich die Notwendigkeit, einen digitalen End-to-End Prozess im Kreditgeschäft zu implementieren. Kunden sollten die Möglichkeit haben, digital und einfach Kredite zu beantragen.

Die interne Bearbeitung der digitalen Akte könnte problemlos auch remote erfolgen.”

Dank digitaler Schnittstellen und digitaler Verarbeitung von Dokumenten lässt sich zusätzlich die Effizienz verbessern. Beispielsweise können Selbstauskünfte innerhalb des Genehmigungsprozesses durch automatische Kontotransaktionsanalysen ersetzt werden, die per digitalem Schnittstellenzugriff (PSD2) gesammelt werden. Auch die digitale Akte bietet gegenüber Originaldokumenten einen Effizienzvorteil im Handling und bei der Verwendung von automatisch extrahierten Inhalten. Gleichzeitig ließe sich so die Fälschungssicherheit auf ein höheres Level heben. Auf Kundenseite bringt beispielsweise die digitale Legitimation und die digitale Unterschrift Zeit- und Komfortvorteile.

Gibt es Institute, die mit dem enormen Ansturm besonders gut zurechtkommen? Und was machen die anders?

Christoph Tahedl, CTO Collenda
Christoph Tahedl ist als CTO verantwortlich für Technologie, Produktentwicklung und das Produktmanagement bei Collenda (Website). Er hat mehr als 20 Jahre Erfahrung in der Anwendungsentwicklung und dem Management von Entwicklungsteams, insbesondere im Finanzsektor. Er begann seine Karriere im wissenschaftlichen Bereich, wechselte später in die Softwareentwicklung von Dokumentenmanagement- und Workflow-Automatisierung und ist seit 2002 Mitglied im Team von Collenda. Seit einigen Jahren setzt er sich für agile Entwicklung als Methode ein und treibt die Entwicklungen der Collenda im Bereich der künstlichen Intelligenz voran. Er studierte Informatik in Paderborn und hält einen Abschluss als Diplom-Informatiker.
Die Handhabung der Krise ist bei den Instituten sehr unterschiedlich. Dies liegt an der internen Strategie aber auch am digitalen Reifegrad. Wer über neue digitale Lösungen entlang der Kreditwertschöpfungskette verfügt, hat natürlich ganz andere Kapazitäten und Skalierungsmöglichkeiten als die analoge Konkurrenz. Für Vorreiter bietet sich in der aktuellen Lage sogar die Möglichkeit, Neukundengeschäft zu generieren. Kunden, denen die eigene Hausbank in der Krise nicht helfen kann, müssen sich zwangsläufig anders orientieren. Institute, die derzeit schnell und unkompliziert helfen können, legen den Grundstein für eine langfristige Zusammenarbeit. Man ist schließlich bereits krisenbewährt.

Zu den Gewinnern derzeit gehören auch Banken, die über digitalisierte und stark standardisierte Kreditprodukte verfügen. Diese sind prädestiniert, um ganz kurzfristig weiterhelfen zu können: Der Antrag ist sehr einfach und bis zur Auszahlung an den Kunden vergeht sehr wenig Zeit.

Personal aufstocken wird keine kurzfristige Lösung sein. Welche Technologien helfen jetzt?

In der jetzigen Ausnahmesituation würde zusätzliches Personal nur sehr bedingt und vor allem nicht akut helfen, da Prozesse gänzlich neu strukturiert werden müssen.”

Wettbewerbsentscheidend ist daher jetzt die digitale End-to-End Bearbeitung von Anträgen. Hierzu lassen sich verschiedene Tools einsetzen. An der direkten Schnittstelle zum Kunden kommen etwa Self-Service Portale zum Einsatz, mit denen Kunden rund um die Uhr und an jedem Ort Antragsdaten selbst erfassen und auch weitere Nachweisdokumente zur Verfügung stellen können. Unterstützt wird dieser mobil verfügbare Prozess durch KI-basierte Chatbots, die ebenfalls rund um die Uhr Fragen beantworten, Anwender anleiten und zur direkten Problemlösung beitragen können.

Über moderne API-Lösungen können Datensilos innerhalb der Organisation aufgebrochen werden, um vorhandene Informationen auszuwerten und nutzbar zu machen. Auch mittels Robo-Process-Automation (RPA) können Bestandssysteme mit den modernen digitalen Kreditantragsstrecken verbunden werden, um die Effizienzvorteile der End-To-End Digitalisierung auch für Legacy-Systeme verfügbar zu machen. Wann immer Belege und Dokumente im Prozess notwendig sind, helfen Portale den Prozess zu beschleunigen und Übersichtlichkeit und Qualität zu verbessern.

Mittels optischer Zeichenerkennung (OCR) und KI-basierten Mustererkennungsverfahren können Inhalte und Aktualität von gescannten Dokumenten automatisch überprüft und Dokumenttypen klassifiziert und sortiert werden.”

Dies reduziert sowohl den Arbeitsaufwand als auch die erforderliche Zeit bis zur Kreditzusage bzw. Auszahlung. Technologisch gibt es also diverse Lösungsmöglichkeiten, leider bleiben all diese Potenziale oft noch ungenutzt.

Gibt es bereits Lehren oder Erkenntnisse aus der aktuellen Situation?

Ich glaube, dass Institute die aktuelle Krise in mehrfacher Hinsicht sowohl als Zäsur aber auch als Chance sehen müssen. Das ökonomische Umfeld wird wohl noch schwieriger. Die Notenbankpolitik ist eindeutig: Banken werden in Europa sehr lange Zeit mit niedrigsten Zinsen möglichst effizient arbeiten müssen. Ein Ende der Niedrigzinspolitik ist nicht in Sicht. In den nächsten Monaten wird der Druck auf die Banken weiter zunehmen, da Margen weiter schmelzen und die Krise auch Teile der Kreditportfolios „infizieren“ wird.

Auch wenn sich der Regulator aktuell flexibel zeigt, wird der regulatorische Druck nicht nachlassen.”

Ohne konsequente Digitalisierung und Beschleunigung des Finanzierungsprozesses werden Banken sicher Schwierigkeiten bei der Wettbewerbsfähigkeit haben – auf der anderen Seite werden technologische Vorreiter neue Kundengruppen und Marktanteile gewinnen.

Auch auf Kundenseite sehen wir eine Verschiebung: Kreditnehmer lernen gerade die Vorzüge digitaler Anwendungen kennen. Schnelligkeit und Kundenkomfort werden hier sicherlich entscheidende Faktoren sein. Die Filiale wird weiter an Bedeutung als zentrale Anlaufstelle für Fragen der Finanzwelt verlieren. Auch darauf müssen Institute reagieren. Erste Instanz bei Fragen und Problemen rund ums Geld werden das mobile Endgerät oder andere Home-Banking Zugänge sein.

Wenn Institute nun schon in Schwierigkeiten sind: Was sollen sie tun? Augen zu und durch?

Nein, das wird nicht funktionieren. An der Digitalisierung und dem Einsatz neuer Technologien führt kein Weg vorbei: Die Herausforderungen sind nicht temporär, sondern dauerhaft. Es ist höchste Zeit, die Potenziale der neuen Technologien zu nutzen, um Kundenbedürfnissen gerecht werden zu können.

Gibt es neben RPA noch andere Technologien, die jetzt schnell eingesetzt werden können?

RPA ist eine gute Möglichkeit, um auch im Umfeld von Legacy-Systemen und manuellen Prozessen den dringend notwendigen Automatisierungsgrad und die Prozesseffizienz zu steigern. Auch die Nutzung von Self-Service-Portalen mit offenen Schnittstellen und digitaler Dokumentenverarbeitung (OCR) sind einfach und schnell einsetzbare, jetzt verfügbare Technologien. An der direkten Schnittstelle zum Kunden können auch Chatbots schnell einen Nutzen in der 24/7-Kundenkommunikation bringen.

Große Potenziale sehen wir zudem im Bereich des API-Bankings – so können z.B. automatische Transaktionsanalysen des Primärkontos oder Bonitätsauskünfte von Partnern wie Schufa, Creditreform, etc. flexibel in den automatisierten Genehmigungsworkflow einbezogen werden.”

Collenda selber arbeitet insbesondere an Lösungen im Bereich der vollständigen End-To-End Digitalisierung der Kreditprozesse: von der ersten, digitalen Kreditantragsstellung, die beim Endkunden auf dem Sofa beginnt, bis hin zur Restrukturierung und Problemlösung bei Zahlungsschwierigkeiten werden alle Phasen im Kreditprozesses auf Basis offener Schnittstellen, digitaler Self-Serviceportale und KI-basierter, smarter Workflows und Advanced Data-Analytics unterstützt. Auch im Bereich der Cloud sind die Potenziale für Institute noch lange nicht ausgeschöpft. Moderne Kreditmanagementlösungen aus der Cloud lassen sich nach Belieben anpassen und via APIs erweitern. So wäre bei manchen Banken auch in der aktuellen Krise ein agiles Handeln gewährleistet gewesen – um Kunden wie auch der Förderbank eine effiziente Lösung bereitstellen zu können.

Welche Chancen sehen Sie in der derzeitigen Krise für die Institute?

Neben all den Herausforderungen und „digitalen Hausaufgaben“ gibt es auch positive Aspekte aus Sicht der Banken! Gerade im Corporate-Banking ist die Situation eine Bewährungsprobe, die bei guter Performance eine hervorragende Grundlage für eine langfristige Kundenbeziehung darstellen kann. Die notgedrungen veränderten Gewohnheiten der Kunden in Richtung der Digital-Affinität sind für Banken eine echte Chance, die Digitalisierung dauerhaft und umfassend nach vorne zu bringen. Dadurch lassen sich gerade jetzt Effizienzen und Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Banken und sogar FinTechs, die möglicherweise selbst stark unter den Auswirkungen der Krise leiden, heben.

Herr Tahedl, vielen Dank für das Interview.aj

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