INTERVIEW11. November 2025

Agentische KI = Das Aus für Kernsysteme? DEVK, BarmeniaGothaer, HanseMerkur und Iduna im Interview

Schwerpunkt: Kernsysteme
In Sachen Kernsysteme macht Alexander Erpenbach (DEVK Versicherungen), Heiko Kattenstroth (BarmeniaGothaer), Horst Karaschwewski (HanseMerkur) und Dr. Stefan Lemke (Iduna) kaum jemand etwas vor. Im Interview sprechen sie darüber, ob und wie agentische KI Kernsysteme bei Versicheren verändern kann.

von Dunja Koelwel

Meine Herren, der Hype um agentische KI führt vielerorts zu der Fehlannahme, klassische Kernsysteme stünden vor dem Aus. In Wirklichkeit gewinnen sie an Bedeutung, weil sie die notwendige Stabilität, Nachvollziehbarkeit und Persistenz liefern, die KI-gestützte Innovationen skalierbar und regulatorisch belastbar machen. Sehen Sie dies ebenso?

Alexander Erpenbach, Leiter der Hauptabteilung Sach/HUK-Betrieb der DEVK Versicherungen, äußert sich zur Rolle von agentischer KI in der Versicherungsbranche. Er betont die Notwendigkeit, sich auf technologische Veränderungen vorzubereiten.
Alexander Erpenbach, Leiter der Hauptabteilung Sach/HUK-Betrieb der DEVK Versicherungen DEVK/Jürgen Naber

Alexander Erpenbach: Ja, denn wer seine Hausaufgaben nicht gemacht hat und auf das Wunder der agentischen KI hofft, wird schwere Enttäuschungen erleben. KI ist die sinnbildliche „Sahnehaube auf der Torte“; sie ermöglicht die Lösung sehr komplexer Aufgabenstellungen mit hoher Qualität. Die meisten Aufgaben eines Versicherers sind mit Unterstützung eines regelbasierten Workflows aber günstiger und schneller lösbar. KI-Lösungen sollten deshalb den Bereichen vorbehalten sein, bei denen Regelwerke an ihre Grenzen stoßen.

Dr. Stefan Lemke, IT-Vorstand bei Iduna, äußert sich zur Rolle agentischer KI in der Versicherungsbranche. Er betont, dass Kernsysteme weiterhin essenziell für effiziente transaktionale Abläufe und Datenpersistenz bleiben.
Dr. Stefan Lemke, IT-Vorstand Iduna Iduna

Dr. Stefan Lemke: Diese Beobachtung teile ich ebenfalls. Kernsysteme sind und bleiben das Fundament für hoch effiziente transaktionale Abläufe und Datenpersistenz. Gerade in einem stark regulierten Umfeld wie der Finanz- und Versicherungswirtschaft sind sie unverzichtbar, um unsere langfristigen Leistungsversprechen zu garantieren.

Die Diskussion über die Ablösung von Kernsystemen ist verständlich: Oft sind ältere Systeme funktional überfrachtet, nicht ausreichend modularisiert und ohne tragfähige Schnittstellen-Architektur, nach heutigen Massstäben. Ich begleite die technologische Entwicklung nun schon seit vielen Jahren und die Diskussion über die Ablösung von Kernsystemen ist nicht neu, aber die aktuellen Perspektiven durch KI verschieben klar die Gewichte.

Die wirklich spannende Frage ist jetzt nicht ob, sondern wie wir diese Systeme in die Zukunft führen.”

Dabei muss der Fokus – neben der Modularisierung der Kernsysteme – auf der intelligenten Integration liegen. Ein Großteil des Aufwands in der IT entfällt auf die Integration von Systemen, also letztlich auf die Herstellung, Absicherung und Wartung von Geschäftsprozessen. Genau hier entfaltet agentische KI ein großes Potenzial, als effizienter Beschleuniger, als eine neue Form intelligenter Middleware. Die Zukunft gehört gut durchdachten, klar dokumentierten Schnittstellen-Architekturen, die wir über ein API-Management steuern – damit kann agentische KI wunderbar umgehen.

Die Kernaussage bleibt: Wir werden auch in Zukunft robuste Bestandssysteme für unsere Kerndaten und essenziellen Prozesse benötigen. Die agentische KI wird uns dabei helfen, diese Systeme effizienter und intelligenter zu vernetzen.

Horst Karaschewski, Leiter Anwendungsentwicklung bei HanseMerkur, äußert sich zur Rolle klassischer IT-Kernsysteme im Kontext der agentischen KI. Diese Systeme bleiben entscheidend für effiziente Vernetzung und intelligente Prozesse.
Horst Karaschewski, Leiter Anwendungsenwicklung HanseMerkur HanseMerkur

Horst Karaschewski: Wir teilen die Einschätzung, dass klassische IT-Kernsysteme auch im Kontext des aktuellen KI-Trends weiterhin eine zentrale Rolle spielen – insbesondere in den Punkten Stabilität und Nachvollziehbarkeit in Bezug auf die regulatorische Belastbarkeit.

Unsere strategische Entscheidung für eine eigene, serviceorientierte IT-Struktur hat sich dabei bewährt: Sie ermöglicht es uns, KI in Services und Agenten gezielt und effizient in Prozesse zu integrieren, ohne die Stabilität unserer Kernsysteme zu gefährden. So profitieren Unternehmen und Kunden gleichzeitig von Prozessoptimierungen und Automatisierungen, während wir gleichzeitig die notwendige Verlässlichkeit und Transparenz sicherstellen.

Heiko Kattenstroth, Abteilungsleiter Konzern IT Standards und Services bei BarmeniaGothaer, äußert sich zur grundlegenden Transformation durch agentische KI, die aus seiner Sicht erst am Anfang steht.
Heiko Kattenstroth, Abteilungsleiter Konzern IT Standards und Services BarmeniaGothaer BarmeniaGothaer

Heiko Kattenstroth: Wir befinden uns insgesamt erst am Anfang einer grundlegenden Transformation durch KI beziehungsweise agentische KI. Aus unserer Sicht wird agentische KI schrittweise eine stärkere Durchdringung der Versicherungsprozesse erleben. Sie wird sowohl einzelne Prozesse umfassender abdecken, als auch weitere Prozesse unterstützen. Infolgedessen werden sich auch die Kernsysteme verändern: Kernfunktionalitäten und -daten müssen Ende-zu-Ende der KI-basierten Lösungen zugänglich gemacht werden, um von den Vorteilen der agentischen KI profitieren zu können. Die Kernsysteme müssen dafür noch modularer, transparenter und besser integrierbar werden. Das heißt aber keinesfalls, klassische Kernsysteme stünden vor dem Aus. Auch wenn dies eine klare Abschichtung und Verlagerung von Funktionalitäten und Prozessen bedeutet werden klassische Kernsysteme mindestens mittelfristig als stabile, auditierbare „Single Source of Truth“ für Vertragsdaten, Prämien, Leistungen, Historien, etc. vor allem im regulatorischen Sinne unverzichtbar bleiben.

Setzen Sie bereits auf agentische KI im Bereich Kernsysteme und wenn ja, wie?

Dr. Stefan Lemke: Ja, wir setzen agentische KI bereits heute sowohl in Geschäftsprozessen als auch im Software-Engineering produktiv ein. Ein einfaches Beispiel ist unser vollautomatisierter Prozess zum Kontowechsel für Kunden. Hier zeigt sich exemplarisch, was ich zuvor beschrieben habe: Weil die zugrundeliegenden Daten, Schnittstellen und Protokolle unserer Kernsysteme sauber strukturiert und gepflegt sind, kann ein KI-gestützter Agent den gesamten Prozess autonom steuern.

Für uns ist agentische KI ein entscheidendes Werkzeug, um den Grad der Dunkelverarbeitung signifikant zu erhöhen. Sie erlaubt uns, an vielen Stellen in der Prozesskette manuelle Eingriffe zu reduzieren und deutlich höhere Automationsgrade zu erreichen. Das steigert nicht nur die Effizienz, sondern verbessert auch die Servicequalität für unsere Kunden durch schnellere und fehlerfreie Abläufe. Die zuvor beschriebenen Schnittstellen, einschließlich der Berechtigungen, bilden hierbei die Voraussetzung dafür, dass KI-Agenten überhaupt erst wirksam werden. Jeder einzelne Agent benötigt sozusagen eine klar definierte „Lebenswirklichkeit“, um agieren zu dürfen. Sobald die gut definiert ist, wird auch die Agent-zu-Agent Kommunikation möglich. Generative KI ist aus Sicht des Software Engineerings ein machtvolles Instrument, das uns schneller und effizienter macht.

Horst Karaschewski: Ja, auch wir setzen bereits agentische KI in ausgewählten Bereichen ein. Insbesondere bei weniger komplexen Versicherungsprodukten, wie etwa in der Tier- oder Reiseversicherung, nutzen wir KI-gestützte Automatisierung, beispielsweise in der Schadensregulierung. Dadurch können wir Prozesse effizienter gestalten und unseren Kunden einen schnelleren Service bieten. Die Integration erfolgt dabei stets so, dass die Vorteile der KI optimal genutzt werden, ohne die Integrität unserer Kernsysteme zu beeinträchtigen.

Alexander Erpenbach: Aktuell haben wir einen ersten KI-Use-Case, der an unser Kernsystem angebunden ist. Der Replymate, gefüttert mit allen Unterlagen wie Bedingungen, Tarifen und Arbeitsrichtlinien, liest dazu die Bestandsdaten aus dem Kernsystem und entwickelt einen Antwortvorschlag für einfache Kundenanliegen, bis hin zu Beschwerden. Das spart Recherchearbeit und ermöglicht qualitativ hochwertige Antworten in Rekordzeit. Wir lernen und verbessern die KI-Vorschläge durch den „human in the loop“-Ansatz.“

Heiko Kattenstroth: Nein, aktuell setzen wir noch keine agentische KI im Bereich der Kernsysteme produktiv ein. Als Teil der neuen gemeinsamen Konzernstrategie werden wir uns mit dem Thema agentische KI über die nächsten Jahre hinweg sehr intensiv und übergreifend beschäftigen.

Die Anbindung moderner Software erfolgt oft über ein komplexes Netzwerk von Umsystemen. Dieser historisch gewachsene Flickenteppich stößt aber irgendwann an Grenzen. Wie lösen Sie dieses Problem?

Dr. Stefan Lemke: Ich frage meine Leute gerne mal, was sie mit „Umsysteme“ meinen. Gerade in einer agilen Organisation, wie unserer, bei SIGNAL IDUNA (Webseite), meint der Begriff je nach der Perspektive des jeweiligen Tribes oder Squads etwas anderes. Aber natürlich kommen bestimmte Querschnitssysteme und -Services immer wieder vor, wenn man die Bilder übereinanderlegt. Und hier gilt: Diese Services müssen bestmöglich gekapselt und im Self-Service bereitgestellt werden, damit sie nicht zum Engpass werden, also zu kritischen Abhängigkeiten, die aufwendig manuell serviciert werden müssen.

Unser Ansatz ist differenziert, fallweise der radikale Neubau oder die intelligente Modernisierung.”

Der Schlüssel liegt hierbei in der Architektur und der konsequenten Ausrichtung auf moderne Schnittstellen. Neben dem API-Management und einem strikten Berechtigungsmanagement spielt unsere Cloud-Umgebung eine entscheidende Rolle. Unternehmen, die den Schritt in die Cloud noch nicht in der Breite vollzogen haben, werden es schwer haben, die Anbindung von Geschäftspartnern, neue Geschäftsprozesse oder den laufenden Umbau der Applikationslandschaft in der heute erforderlichen Geschwindigkeit umzusetzen, geschweige denn das Potenzial der Agenten-Technologien zu erschließen.

Durch die Optimierung der Schnittstellen, können wir diesen Flickenteppich zwar nicht auflösen, aber wir können ihn schrittweise umgehen, einzelne Altsysteme gezielt aktivieren und modernisieren. Agentische KI fungiert hier, als eine Art “Integrations-Middleware”, die uns hilft, die Komplexität zu beherrschen und die Effizienzpotenziale zu heben, ohne die Stabilität des Gesamtsystems zu gefährden.

Heiko Kattenstroth: Die BarmeniaGothaer (Webseite) steht vor der Herausforderung zwei Anwendungslandschaften zu konsolidieren. Im Zuge des Mergers wurden dafür Zielbilder geschaffen, die auf drei wesentlichen Grundprinzipien setzen:

  • Domänenmodell: Wir strukturieren die Anwendungslandschaften nach fachlichen Zusammenhängen (sogenannte fachliche Domänen) und entkoppeln Services über stabile Schnittstellen an den Domänengrenzen (z.B. Partner, Zahlungsverkehr, Schaden). Innerhalb einer Domäne können wir so ohne größere Auswirkungen Anwendungen verändern und haben klar definierte Zugriffspunkte auf die Daten und Funktionen der jeweiligen Domänen. Das unterstützen wir durch ein übergreifendes API-Management und supporten damit gleichermaßen auch unterschiedliche Veränderungsgeschwindigkeiten.
  • Customer Data Store: Insbesondere im Kunden- bzw. Vertriebsumfeld sind Daten aus einer Vielzahl an unterschiedlichen Bestands- und Querschnittssystemen erforderlich. Um hier den Zugriff zu vereinfachen und zu beschleunigen, tragen wir die benötigten Daten an einer zentralen Stelle zusammen und bieten so einen von der Versicherungstechnik entkoppelten Zugriffspunkt, den sog. Customer Data Store.
  • Klare Leitplanken und zielgerichteter Mix an Werkzeugen: Es gibt nicht ein einzelnes Werkzeug bzw. den einzelnen Integrationsansatz, der alle Integrationsanforderungen gleichermaßen bedient. Vielmehr bedarf es einen ausgewogenen Mix und Klarheit zum professionellen Einsatz verschiedener Ansätze: Wir setzen auf moderne APIs, ergänzen diese durch asynchrone, in der Regel eventbasierte Integrationsansätze und nutzen zusätzlich leistungsfähige Prozess-Engines. So entsteht eine flexible, skalierbare und zukunftssichere Integrationsarchitektur, die die Stärken der einzelnen Disziplinen optimal vereint.

Horst Karaschewski: Dank unseres strategischen Aufbaus einer eigenen, serviceorientierten IT-Infrastruktur sind wir bei der HanseMerkus (Webseite) in der Lage, einzelne Services flexibel zu ersetzen oder neue Services zu integrieren. So vermeiden wir die typischen Herausforderungen historisch gewachsener IT-Landschaften und stellen sicher, dass unsere Systeme zukunftsfähig und anpassungsfähig bleiben. Dieses Vorgehen hat sich bereits seit längerer Zeit bewährt und ermöglicht uns, Innovationen wie KI effizient und nachhaltig einzubinden.

Alexander Erpenbach: Im Bereich Komposit haben wir bei der Iduna  (Webseite) bereits 2017 begonnen, unsere segmentierten, betagten Host-Anwendungen durch ein modernes Kernsystem abzulösen. Diese Mammutaufgabe schließen wir im nächsten Jahr ab und können uns dann vom Mainframe verabschieden. Das moderne Kernsystem bildet dann die Grundlage für klassische Automatisierung und agentische KI.

Meine Herren, vielen Dank für das Gespräch.dk

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