STRATEGIE29. Juli 2022

Die Zukunft des Aktiendepots liegt in der Blockchain

Experte für Blockchain bei Aktiendepots: Marco Havekost, Sopra Steria
Marco Havekost, Sopra SteriaSopra Steria

Die Blockchain ersetzt den Broker – mit diesem Szenario sollten sich Finanzdienstleister schon heute auseinandersetzen. Regulatorische Vorgaben und das weiterhin große Vertrauen der Kunden in klassische Anbieter mögen eine solche Disruption bremsen, doch der Druck auf die Finanzdienstleister steigt, echte Mehrwerte mit ihren Angeboten zu schaffen, wenn sie künftig noch relevant sein wollen.

von Marco Havekost, Sopra Steria

Die Blockchain und andere Distributed-Ledger-Technologien kommen bereits heute in einer Vielzahl von Szenarien des Handels zum Einsatz. Unternehmen aus der Lebensmittelindustrie nutzen sie beispielsweise, um die Rückverfolgbarkeit innerhalb komplexer Lieferketten und damit letztlich Lebensmittelsicherheit zu ermöglichen. Ähnlich verhält es sich mit der klassischen Industrie, die in einer globalisierten Welt von Tracking- & Tracing-Verfahren auf Blockchain-Basis profitiert. Mit Blick auf die Finanzindustrie führt das schnell zu einer grundsätzlichen Frage: Wenn sich der Handel mit physischen Gütern wie Industriebauteilen, Lebensmitteln oder Pharmaprodukten über DLT absichern und effektiver gestalten lässt, warum sollte nicht auch der Handel mit Aktien, ETFs oder Fonds von entsprechenden Lösungen profitieren? Ersetzt die Blockchain womöglich sogar in absehbarer Zeit den Broker?

Gerade angesichts des enormen Booms, den das digitale Investieren in den vergangenen Monaten erlebt hat, rückt diese Frage zunehmend in den Fokus vieler Anbieter von Trading-Apps und Aktien-Depot-Lösungen. Für die Marktanalyse Digital Investieren hat Sopra Steria 40 Anbieter digitaler Broker-Lösungen aus Deutschland und Österreich in Augenschein genommen. Mit 15 von ihnen wurden ausführliche Interviews geführt.

Auf keinen anderen Trend, der in den kommenden Monaten von hoher Relevanz ist, haben die Anbieter so oft verwiesen wie auf den Themenkomplex von Blockchain und Kryptowährungen. Dabei geht es um den Aufbau und die Ausweitung des Handels mit digitalen Währungen.”

Doch gerade angesichts des enormen Margendrucks, dem sich viele Anbieter infolge des Preiskampfes in der Branche gegenübersehen, spielen zugrundeliegende Technologien auch noch in anderer Hinsicht eine Rolle.

Blockchain senkt Kosten, erhöht die Sicherheit und schafft neue Anlagemöglichkeiten

Genauer gesagt kann die Technologie helfen, drei wesentliche Probleme in den Griff zu bekommen. Das sind zunächst einmal die operativen Kosten, die das Anbieten von Trading-Lösungen mit sich bringen. Wenngleich es in absehbarer Zeit zunehmend wichtig für die Anbieter sein dürfte, Mehrwerte durch zusätzliche Services schaffen zu können, um sich dadurch von den Wettbewerbern zu differenzieren, so bleiben günstige Konditionen gerade für die Neobroker das wesentliche Argument. Der Einsatz der Blockchain oder anderer Distributed-Ledger-Technologien kann die Grundlage einer Peer-to-Peer-Kommunikation zwischen den Marktteilnehmern bilden. Kostentreibende Intermediäre entfallen und Clearingprozesse werden radikal vereinfacht. In verschiedenster Weise wird bereits an Lösungen gearbeitet, die zumindest perspektivisch das beschriebene Szenario ermöglichen.

Autor Marco Havekost, Sopra Steria
Marco Havekost ist seit 2018 bei Sopra Steria Next (Webseite) mit an Bord. Zuvor hat der heutige Senior Consultant im Bereich IT-Governance seinen Master of Science im Bereich Finanzwirtschaft und Rechnungswesen an der Universität Bremen erfolgreich abgeschlossen und berät damit vorrangig Unternehmen des Finanzsektors. Seine Interessen liegen in der strategischen Ausrichtung der IT und neuen Technologien.

Hand in Hand geht der Aspekt der Kosten mit der Sicherheit und Transparenz. Die Sicherheit ließe sich durch den Blockchain-Einsatz aufgrund der Unverfälschbarkeit der abgelegten Daten erhöhen – trotz sinkender Kosten. Beim Blick auf die großen regulierten Börsen mag dies zunächst nicht die höchste Relevanz haben. Angesichts der zunehmenden Bedeutung von Dark Trades/Pools und der noch immer vorherrschenden zerfaserten Liquidität an den Märkten sieht dies jedoch anders aus.

Schließlich bedeutet der Einsatz der Blockchain auch, dass sich neue Formen des Handels ermöglichen lassen – beispielsweise durch die Tokenisierung. Das schafft eine Alternative zum bisherigen CFD-Handel – macht diesen letztlich in weiten Teilen überflüssig – und eröffnet Kleinanlegern einen sehr viel breiteren Zugang zu Aktien. Die Tokenisierung kann daneben auch den Zugang zu Börsen erleichtern und eine weitere Möglichkeit neben SPACS und klassischem IPO schaffen. Ein Beispiel dafür wäre ein Initial Coin Offering, das bislang vor allem genutzt wurde, um die Entwicklerfirmen neuer Kryptowährungen per Crowdinvesting zu kapitalisieren.

Wie kann der Aufbau der künftigen Blockchain-gestützten Börsenwelt aussehen?

An erster Stelle steht der Aufbau eines dezentralen Handelsplatzes (meist als dEX abgekürzt), von denen es im Bereich der Kryptowährungen inzwischen sehr verschiedene Formen gibt. Open-Source-Ansätze erlauben es dabei in manchen Fällen auch, dass Nutzer Codes anderer Projekte nutzen, um ihre eigenen Handelsplätze aufzusetzen. Solche dezentralen Börsen, die vor allem auf der Ethereum-Blockchain oder Binance-Chain laufen und die Möglichkeit von Smart Contracts nutzen, automatisieren den Tausch von Token und schalten den Broker als Vermittler an der Börse aus. Das hat eine ganze Reihe von Folgen. Eine davon: Nutzer, die mit Kryptowährungen handeln wollen, verlieren zu keinem Zeitpunkt die Kontrolle über ihre Coins. Anders als bei einer zentral organisierten Börse müssen sie ihre Coins nicht einzahlen oder zur Verwahrung an Dritte übertragen. Genau das ist auch einer der Treiber für die Entwicklung von dEX in der Kryptowelt. Der Fall von Celsius Network, das zuletzt Kryptovermögenswerte in Millionenhöhe eingefroren hat, ist nur eines von vielen Beispielen in dem Zusammenhang.

Smart Contracts, zusammengefasst unter anderem im oX-Protokoll, ersetzen bei den dEX die klassischen Auftragsbücher und ermöglichen den Peer-to-Peer-Austausch der jeweiligen Kryptowerte. Jeder Auftrag wird also in der Blockchain festgeschrieben.”

Wechselt ein Coin den Besitzer, erfolgt der Tausch verschiedener Token gegeneinander. Doch dieses Prinzip lässt sich nicht nur für den Handel mit Kryptowährungen nutzen, sondern grundsätzlich auch für den Handel mit anderen tokenisierten Assets – seien es Anleihen, Aktien oder sonstige digitalisierte Besitz- und Vermögensansprüche.

Gerade Neobroker, die oftmals auf die Zusammenarbeit mit etablierten Börsenbetreibern angewiesen sind, könnten von solchen Technologien profitieren. Sie stellen zwar weiterhin eine digitale Kundenschnittstelle bereit, doch können beim technologischen Unterbau eine Vielzahl von Dienstleistern umgehen, die im klassischen Wertpapierhandel notwendig (und nicht selten vorgeschrieben) sind. Verwahrstellen und die damit einhergehenden Verwahrketten könnten überflüssig werden. Clearingprozesse ließen sich vereinfachen, womit die Relevanz der Clearinghäuser und deren Anteil an den Handelskosten abnimmt. Um Liquidität an den Märkten zu sichern, könnten Automated Market Maker und Liquiditätspools zum Einsatz kommen. Kapitalmaßnahmen erfolgen über Smart Contracts.

Das Ende des klassischen Depots?

Viele dieser Technologien und Ansätze erproben Finanzdienstleister bereits heute. Gerade für Kunden und FinTechs sind sie von hohem Interesse.

Die beiden größten Herausforderungen: regulatorische Vorgaben und Standardisierung. Der Aktienhandel und die Rolle des Depots dürften sich darüber in den kommenden Jahren drastisch verändern.”

Die Technologien führen in der Summe zu einer weiteren Demokratisierung des Handels – mit geringen Gebühren, hoher Effizienz und Transparenz. Das Ende der Broker und depotführender Stellen durch die Blockchain mag damit noch nicht einhergehen. Allerdings formulieren die Möglichkeiten, die die Distributed-Ledger-Technologien bieten, einen Imperativ in Richtung der Finanzbranche: Brokerage und das Depot der Zukunft sollten echte Mehrwerte für ihre Kunden bieten, die deutlich über das Abwickeln von Handelsprozessen hinausgehen.Marco Havekost, Sopra Steria

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