“Self-Sovereign Identity ist derzeit auf dem Gipfel der überzogenen Erwartungen“ – Nect-CEO im Interview
2017 gründeten Benny Bennet Jürgens mit Carlo Ulbrich das Unternehmen Nect – ein Startup für vollautomatisierte Online-Identifizierung. Dafür erhielten sie bereits den Deutschen Exzellenzpreis, dem Hamburger Gründerpreis und einen Innovationspreis vom Bundesministerium für Wirtschaft und Industrie. CEO Benny Bennet Jürgens im Interview von Rudolf Linsenbarth.

Nect/Foto: Matthias Friel
Herr Jürgens, 2017 haben Sie mit der Entwicklung der Nect App begonnen? Wo steht das Projekt derzeit?
Wir haben bereits vielfältige Einsätze im Versicherungsbereich als Ersatz für den Aktivierungsbrief bei Kundenportalen oder zur Identifizierung von Kunden, sowohl bei privaten als auch gesetzlichen Krankenkassen. Ein weiteres Feld sind Identifikationen in der Telekommunikationsbranche. Nicht zu vergessen der Einsatz für die Legitimation der Corona-Soforthilfe in Hamburg über die Innovations- und Förderbank. Darüber hinaus konnten wir für die Bundesagentur für Arbeit den Online-Zugang bundesweit legitimieren.Als nächstes habe wir Use-Cases rund um das Thema Altersverifikationen ins Auge gefasst.”
In Ihrer Aufzählung fehlt aber mit der KYC-Identifizierung nach GWG eine besonders lukrative Anwendung der Identity-Branche. Wann denken Sie erhalten Sie hier eine Zulassung?
Grundsätzlich kann die Nect App hierfür verwendet werden mit dem gesetzlich geforderten Zwischenschritt einer Referenzüberweisung.
Ich habe die Hoffnung, dass es eher eine Frage von Monaten als von Jahren ist, bis auch der direkte Einsatz möglich ist, denn im Geldwäschegesetz gibt es mit §13 (2) 3 nun eine Öffnungsklausel für neue Verfahren.”
Wir setzen darauf, dass hiervon in nächster Zeit verstärkt Gebrauch gemacht wird.
Im Bereich der Robo-Ident-Technologie, wie Sie die technische Grundlage für Ihre App zum digitalen Abgleich von Ausweis und seinem Besitzer bei Nect nennen, gibt es eine Vielzahl von Anbietern. Woher nehmen Sie die Zuversicht, dass Nect sich hier durchsetzen kann, beziehungsweise wo ist ihr Produkt signifikant besser als der Wettbewerb?
Wir sehen uns bei einer Reihe technischer Entwicklungen durchaus in einer führenden Stellung. Das beginnt mit der KI zum Gesichtsabgleich und der Erkennung von Ausweisfälschungen.”
Das dazu notwendige Deep Learning braucht sehr viele echte Identifizierungsvorgänge. Wir haben damit umfangreiche praktische Erfahrung, die man nicht durch aufgezeichnete Videos und schon gar nicht durch Fotos ersetzen kann.
Benny Bennet Jürgens ist CEO und Gründer der Nect GmbH. Seine berufliche Laufbahn begann der gelernte Informatiker in der Versicherungswirtschaft, wo er an verschiedenen Digitalisierungsprojekten mitwirkte. Vor Gründung des eigenen Unternehmens verantwortete er die App-Entwicklung eines weltweit agierenden Versicherungskonzerns. Am 25. April 2017 gründete er gemeinsam mit Carlo Ulbrich Nect. Der gebürtige Hamburger ist 34 Jahre alt und hat zwei Kinder.Wir verlassen uns nicht auf die Verfahren der Smartphone-Hersteller. Und so halten wir auch mehrere Patente auf unsere Technologie.”
Hat Nect denn schon eine Zulassung für die Personenidentifizierung bei Vertrauensdiensteanbietern?
Über diese eIDAS Zertifizierung verfügt Nect in der Tat und darf daher auch bei Vertrauensdiensteanbietern in Deutschland und der gesamten EU zum Einsatz kommen.
Mit Robo Ident setzt Nect ja im Gegensatz zu vielen anderen Identity Anbietern auf eine 1-Produkt-Strategie. Wie sieht es mit einem Plattform-Ansatz aus und wäre eine Identity Wallet nicht ebenfalls ein Thema?
Beginnen wir mit der Wallet: Genaugenommen ist die Nect App eine Wallet. Nach einer Identifizierung speichern wir den Identifikationsvorgang dauerhaft, indem wir einen private Key speichern.”
Die nächste Identifikation kann dadurch sehr viel schneller durchgeführt werden. Wir nennen dies die Nect ID, welche seit April 2021 bei vielen Versicherungen und anderen Kunden zum Einsatz kommt.
Wir positionieren die Nect App nicht als SDK oder White-Label-Lösung. Deshalb macht es für uns weniger Sinn, die App auf einer Plattform anzubieten. Was wir aber forcieren, ist die Integration von komplementären ID-Verfahren wie z.B. die eID-Funktion des Personalausweises.
Darüber hinaus ist es über die Nect App bald auch möglich, Verträge qualifiziert zu unterschreiben. Hier profitiert der Nutzer langfristig von seiner Nect Wallet als Dokumentenspeicher.”
Wie sieht es mit einer Expansionsstrategie für das Ausland aus?
Das ist für uns eine sehr gute Möglichkeit, noch schneller zu wachsen. Technisch sind wir bereits vorbereitet, da wir alle maschinenlesbaren Reisedokumente nach dem Standard der International Civil Aviation Organisation (ICAO) auswerten können. Das sind derzeit rund 190 Länder weltweit.
Im Sommer diesen Jahres haben wir unsere Auslandsaktivitäten mit Vertriebspartnerschaften in Österreich und der Schweiz gestartet. Inzwischen sind wir mit eigenen County Managern in Polen und Spanien präsent, die dort jeweils ein lokales Nect-Team aufbauen.
Rudolf Linsenbarth beschäftigt sich mit Mobile Payment, NFC, Kundenbindung und digitaler Identität. Er ist seit über 15 Jahren in den Bereichen Banken, Consulting, IT und Handel tätig. Linsenbarth ist profilierter Fachautor und Praktiker im Finanzbereich und kommentiert bei Twitter (@holimuk) die aktuellen Entwicklungen. Alle Beiträge schreibt Linsenbarth im eigenen Namen.Im Ausland gibt es große Unternehmen wie Onfido, und Jumio. Befürchten Sie eigentlich deren Markteintritt in Deutschland?
Die von Ihnen genannten Unternehmen sind zwar schon länger im Markt, aber finden kaum Akzeptanz in streng regulierten Bereich wie zum Beispiel Versicherungen und Banken. Unsere Technologie der Auswertung der Echtheit von Ausweisdokumenten bietet eine höhere Sicherheit als fotobasierte Verfahren, wie beispielsweise die von Onfido oder Jumio, bei gleicher Nutzerfreundlichkeit. Darüber hinaus ist der Markt so groß, dass es genügend Platz gibt.
Wie schätzen Sie das Desaster um ID Wallet und Basis ID ein? Welche Chancen geben Sie SSI für die Identifizierung und was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen für ID Anbieter in der Zukunft?
Self-Sovereign Identity ist derzeit auf dem „Gipfel der überzogenen Erwartungen“ des Gartner Hype Cycles.”
Das heißt aber nicht, dass wir das Thema ignorieren, es bleibt abzuwarten, wie sich das entwickelt. Ich bin gespannt, ob es staatliche Wallet-Lösungen geben wird, die in der EU länderübergreifend funktionieren. Es bleibt auch abzuwarten, ob hier mehr auf die Bedürfnisse der Nutzer geschaut wird.
Die größte Frage für unsere Branche ist, wie unabhängig wir ohne Apple und Google agieren können. Ein Beispiel ist die Corona Warn-App. Den Standard haben Apple und Google diktiert.
Ich sehe im Moment die Gefahr, dass die ID Wallet und SSI Projekte vorrangig den Smartphone-Giganten den Weg bereiten.”
Herr Jürgens, vielen Dank für das Gespräch.Benny Bennet Jürgens/Rudolf Linsenbarth
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